
Marília Jöhnk beim Einführungsvortrag in das Projekt theoriespuren.de
Am Montagnachmittag, den 7.7.2025 um 16 Uhr erschien der Eisenhower-Saal des IG-Farben Hauses auf dem Campus Westend wie verwandelt: Die Tische zu Gruppentischen zusammengestellt, ein Buffet ist aufgebaut, bunte Luftballons aufgehängt. Studierende und Interessierte sind zusammengekommen, um einen festlichen Anlass zu begehen: Nach fast einjähriger Arbeit ist die Website theoriespuren.de, eine Online-Enzyklopädie zu Frauen* in der Theoriegeschichte, online gegangen. In einem Seminar mit Marília Jöhnk, der Initiatorin des Projekts, haben Studierende Porträts zu Theoretiker*innen verfasst und präsentieren diese in Essays, Graphic Novels und auch Podcasts auf der Website. Die Website soll Spuren legen und dazu anregen, sich weiter mit dem Werk von Theoretiker*innen auseinandersetzen und den Kanon in Forschung und Lehre aufzubrechen.
Die Veranstaltung begann mit Grußworten von Frederike Middelhoff, stellvertretende geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrums für Geschlechterforschung, das die Veranstaltung unterstützt hat. Frederike Middelhoff, Professorin für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Romantikforschung, legte unter anderem anhand der Lebensgeschichte von Cornelia Goethe, Namensgeberin des Centrums und weithin unbekannte Schwester Goethes, dar, wie Frauen* systematisch von Zugängen zu Bildung und Theoriearbeit ausgeschlossen wurden: Cornelia Goethe konnte ihr Talent der scharfsinnigen Beobachtung nicht öffentlich machen; ihr frühzeitiger Tod und die ihr verwehrten Zugängen machen es unmöglich, den Beitrag, den sie zur Theorie hätte leisten können, abzuschätzen. Öffentlich ist jedoch, was ihr Bruder und seine Kollegen von weiblicher Wissensproduktion hielten: Laut ihren Auslassungen über ‚poetische Weiber‘ sollten diese über und für Frauen schreiben und keine wissenschaftlichen und theoretischen Arbeiten verfassen. Frederike Middelhoff benennt diese strukturellen Diskriminierungs- und Ausschlussverfahren klar als Geschlechtszensur. Sie plädierte dafür, Frauen* in akademischen Kontexten als Theoretiker*innen sichtbar zu machen und lud zur Auseinandersetzung mit ihren Theorien und Schriften ein. Dies sei dringlicher denn je. Dass sich Studierende dieser Herausforderung stellten, sei ein Glücksfall für den FB10 und die Geschlechterforschung an der Goethe Universität. Dem CGC sei es daher ein Anliegen, die Verbreiterung des Literaturkanons zu unterstützen. Middelhoff wünschte der Online-Enzyklopädie die breitenwirksame Aufmerksamkeit, die sie verdient, und allen viel Spaß beim Entdecken bisher unbekannter Theoretiker*innen.
Im Anschluss führte Marília Jöhnk in das Projekt theoriespuren.de ein: Für sie sei es kein Geheimnis, dass der literarische Kanon Frauen ausschließe. Unter anderem Nicole Seifert hätten darauf hingewiesen, wie die Literatur von Frauen systematisch verdrängt und ausgeschlossen wurde. Auch in der Lehre sei dies so: Jöhnk beschrieb dies anhand einer typische Seminarsituation: Meist würde ein Zitat von Derrida, Foucault oder Lacan den Rahmen schaffen, der eine Sitzung oder ein ganzes Seminar rahme und den Blick lenke. Dagegen solle sich das Projekt richten: Alles hätte, so Marília Jöhnk, mit einer Liste begonnen, die sie selbst führe und auf die sie die Namen von Theoretiker*innen schreibe, die ihr in ihrer Arbeit, bei Gesprächen und Vorträgen begegneten. So ähnlich habe auch das Seminar „Neue Narrative der Kulturtheorie“ begonnen, das den Grundstein für die Online-Enzyklopädie legte: Am Anfang hätten sie sich gefragt: Welche Theoretikerinnen kennen wir? Warum genau diese und die meisten anderen nicht?
Auch der Blick auf die Einführungsbücher in die Kulturtheorie zeige, dass dort nur einige wenige Frauen* aufgeführt seien. Das Narrativ der Ausnahmefrau in der Literatur- und Kunstwissenschaft sei aber ebenso ein patriarchaler Mechanismus der Kanonisierung wie der Ausschluss. Das Argument laute: Da Frauen* nur in Ausnahmefällen großartig seien, gäbe es eben nur wenige, große Autor*innen und Künstler*innen. Selbst ein kurzer Blick in die Theoriegeschichte zeige jedoch, dass strukturelle, biographische und historische Gründe Frauen* den Zugang zur literarischen Öffentlichkeit verwehrten. Käthe Hamburger sei so ein Beispiel: aufgrund ihrer jüdischen Herkunft musste sie aus Deutschland fliehen und lebte und veröffentlichte im Exil in Schweden. Nach ihrer Rückkehr erhielt sie wegen ihres Alters keine ordentliche Professur; viele Schriften aus dem Schwedischen wurden nicht übersetzt, ein Umstand, der sie bis an ihr Lebensende beschäftigte. Ähnliche und doch unterschiedliche Konstellationen skizzierte Marília Jöhnk anhand der Biographien von Margarete Susman, Sara Ahmed und Gloria Anzaldúa. Jöhnk endete ihre Einführung mit dem Hinweis, dass auch die Frage, wie Theorie geschrieben ist, keine nebensächliche Frage sei. Sprachliche Mechanismen produzierten Ausschlüsse und hielten diese aufrecht. Daher hätten die Beiträge der Online-Enzyklopädie bewusst auch das affektive Verhältnis zu den präsentierten Gegenständen nicht verbannt, sondern unterstrichen. Es sei nicht das Ziel, einen umfassenden Überblick in das Werk der Theoretiker*innen zu geben, sondern Spuren zu legen und neugierig zu machen.
Diese Neugier vermittelten die Studierenden im Hauptteil der Veranstaltung: Sie stellten ausgewählte Porträts derjenigen Kulturtheoretiker*innen vor, die in der Online-Enzyklopädie behandelt werden. Im Sinne der schon aufgeworfenen Fragen „Was wollen wir vermitteln?“ und „Wie wollen wir es vermitteln?“ erlebten die Anwesenden einen polyphonen Zitatvortrag, in dem anhand von Zitaten Schlaglichter auf das Werk der Theoretiker*innen Monique Wittig, Silvia Bovenschen, Simone de Beauvoir, Silvia Federici, Käte Hamburger, Rosi Braidotti, Anna Lowenhaupt Tsing und Jane Bennett geworfen wurden. Eindrücklich teilten die Studierenden Impressionen in das Werk und das Leben der vorgestellten Theoretiker*innen und vermittelten gekonnt die Lust, sich mit dem Werk der Vorgestellten auseinanderzusetzen.
Marília Jöhnk schloss die Veranstaltung mit dem Hinweis, dass die Website ein Work-in-progress sei. Sie soll eFährten legen und zum Mitmachen anregen. So seien alle eingeladen, selbst aktiv zu werden und Beiträge für die Theoetiker*innen vorzuschlagen, für die es noch keinen Beitrag gäbe.