Das Chicago des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war geprägt von enormer sozialer Ungleichheit. Insbesondere das Leben in den Arbeiter*innenvierteln war beengt, die öffentliche Versorgung mangelhaft und Armut allgegenwärtig. Gestank, Lärm und bisweilen giftige Abgase prägte das Stadtbild. Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder waren hingegen rar gesät.
Hier eröffnete die Soziologin, Publizistin und spätere Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams mit Ellen Gates Starr und weiteren Frauen das „Hull House“: ein Stadtteilzentrum, das sich schnell zu einem wichtigen Treffpunkt und Experimentierfeld für sozialarbeiterische Forschung und Praxis und ebenso für Arrangements der Vergemeinschaftung von Care-Arbeit entwickelte. Die Bewohner*innen des Settlement führten empirische Studien durch und reflektierten in theoretischen Schriften auf Möglichkeiten und Bedingungen demokratischen Zusammenlebens. Dabei unterhielten sie rege Kontakte zu männlichen Kollegen der Universität, etwa J. Dewey, G. H. Mead oder auch W.E.B. DuBois.
Zu den Gründungs- und Hoch-Zeiten von Hull House bildeten Sozialarbeit, -politik und -forschung noch eine Einheit – im Unterschied zu heutigen Verhältnissen. Die Diskussion über das Chicagoer Hull House bildet den Abschluss der Colloquienreihe und bietet Gelegenheit, die zuvor besprochenen Konzepte Revue passieren zu lassen und nach der Übertragbarkeit der Gegenheiten von Hull House auf aktuelle Zusammenhänge der kapitalistischen Spätmoderne zu fragen.
© Fany Fazii
Ursula Offenberger leitet den Arbeitsbereich Qualitative Methoden und Interpretative Sozialforschung am Methodenzentrum der Universität Tübingen. Ihre Schwerpunkte sind US-pragmatistische Forschungsstile wie Grounded Theory und Situationsanalyse. Gemeinsam mit Studierenden hat sie den Webcomic „Pragmatism Reloaded“ realisiert, der das Hull House-Settlement als das wichtigste außeruniversitäre Forschungsinstitut des damaligen Chicago darstellt.
Prof. Dr. phil. Kerstin Rathgeb hat den Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der evangelischen Hochschule Darmstadt inne. In Forschung und Lehre verknüpft sie Erkenntnisse der Disability Studies mit Arbeiten zu sozialem Raum und sozialen Ausschlüssen. Dabei wendet sie sich auch immer wieder den sozialen Widersprüchen und Konflikten zu, die sich nicht zuletzt auch in der sozialen Arbeit und der Arbeit am Sozialen zeigen. Kerstin Rathgeb ist Herausgeberin von Disability Studies. Kritische Perspektiven für die Arbeit am Sozialen (2012), sowie Mitherausgeberin von Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit (2018).