Am 12. Juni 2025 fand auf dem Campus Westend der Goethe-Universität der Workshop „Hierarchien und Ungleichheiten in der qualitativen Sozialforschung“ mit Dr. Minna K. Ruokonen-Engler und Ruth Manstetten statt. Die sechsstündige Präsenzveranstaltung wurde in deutscher Sprache durchgeführt und richtete sich an Forschende und fortgeschrittene Masterstudierende aus verschiedenen Fachrichtungen. Die Teilnehmenden kamen unter anderem aus den Erziehungswissenschaften, der Musikwissenschaft, der Biologie und der Wirtschaftssoziologie, was eine ausgesprochen interdisziplinäre und lebendige Diskussion ermöglichte. Durch die interdisziplinäre Zusammensetzung der Gruppe konnten verschiedene Perspektiven auf das Thema des Workshops gewonnen werden: eine kritische Auseinandersetzung mit sozialer Positionierung, Machtverhältnissen und epistemischen Ungleichheiten in qualitativen Forschungsprozessen.
Gleich zu Beginn wurde der Workshop von Dr. Katharina Hoppe eröffnet, die das GRADE Center Gender und dessen Angebote vorstellte. Die Workshop-Leitung lag bei Dr. Minna K. Ruokonen-Engler und Ruth Manstetten, die beide am Frankfurter Institut für Sozialforschung im Arbeitskreis Feldforschung aktiv sind.
Der Workshop war theoretisch wie empirisch fundiert und bot einen Raum für gemeinsame Reflexion, methodologische Selbstbefragung und kollektive Analyse. In den Rückmeldungen wurde das Format als sehr bereichernd, tiefgehend und herausfordernd beschrieben. Die Atmosphäre wurde als offen und wertschätzend wahrgenommen; viele bemerkten die Notwendigkeit sich mit Fragen um Verletzlichkeit, Privilegien, und Machtverhältnisse in die eigene Forschungspraxis auszutauschen. Der Workshop habe zu intensiver Selbstreflexion eingeladen und sei ein Ort, um über die ethischen und politischen Dimensionen qualitativer Forschung zu sprechen. Mehrere Teilnehmende wünschten sich eine Wiederholung in erweiterter Form, um noch stärker in einzelne Themen einsteigen zu können.
Der Workshop war entlang vier zentraler Fragen aufgebaut, die sich wie ein roter Faden durch den Tag zogen: Wie beeinflussen soziale Ungleichheiten unseren Zugang zum Feld? Welche Zuschreibungen, Stigmatisierungen oder Hierarchien können wir – oft unbeabsichtigt – mit unserer Forschung (re)produzieren? Wie gehen wir mit Risiken im Feld um, die uns selbst betreffen? Und wie lassen sich soziale Ungleichheiten methodisch überhaupt erkennen und analysieren?
Der Einstieg erfolgte über einen sogenannten „Privilegien-Check“, eine Übung zur Selbstreflexion, angelehnt an Konzepte aus der kritischen Rassismusforschung, etwa von Peggy McIntosh oder Ruth Frankenberg. Dabei ging es nicht darum, sich in Kategorien einzuordnen, sondern darum, das eigene Verhältnis zur Forschung zu befragen: Wie bin ich zu meinem Thema gekommen? Welche biografischen Erfahrungen bringe ich mit? Wie werde ich im Feld gesehen – und was bedeutet das für meine Daten, meine Interpretationen? Die Teilnehmenden analysierten, welche gesellschaftlichen Positionierungen sie in die Forschung mitbringen und wie diese sowohl das Feld als auch die Datenproduktion strukturieren. In diesem Zusammenhang wurde das Konzept der „biographischen Reflexivität“ (Siouti & Ruokonen-Engler) eingeführt, das dazu anregt, die eigene Wissensproduktion als situiert zu begreifen. Die Diskussionen zeigten: Positionierung ist keine fixe Eigenschaft, sondern ein komplexer Aushandlungsprozess zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, kontextabhängig, fluide und nicht immer eindeutig.
Im ersten thematischen Block diskutierten die Teilnehmenden in Kleingruppen ihre eigenen Forschungsprojekte und reflektierten, ob und wie Ungleichheitsverhältnisse eine Rolle in ihren Forschungsdesigns spielen. Es wurde sehr deutlich, dass der Zugang zum Feld, die Interaktionen mit Interviewpartner*innen und die Art und Weise, wie Forschung wahrgenommen wird, stark von der sozialen Positionierung der Forschenden abhängen. In der Kleingruppenarbeit zu Block 1 wurde dies anhand konkreter Forschungsprojekte greifbar. Die Gespräche zeigten: Zugang zum Feld ist nicht „neutral“, sondern oft geprägt von Alter, Gender, Sprache, Herkunft – und davon, wie wir gesehen werden. In diesem Zusammenhang wurde auch das Konzept des „strategischen Essentialismus“ nach Spivak diskutiert: die bewusste (Selbst-)Essenzialisierung in bestimmten Situationen, um Sichtbarkeit herzustellen oder Zugang zu ermöglichen.
Im zweiten Block ging es um die mögliche Reproduktion von Stigmatisierungen und Hierarchien durch Forschung. Dr. Minna K. Ruokonen-Engler berichtete aus ihrer migrationsbezogenen Forschung und der Herausforderung, wo etwa die Kategorisierung nach „Herkunft“ schnell zu Kulturalisierung oder Ethnisierung führen kann. Stattdessen plädierte sie für eine reflexive Migrationsforschung, die sich an postmigrantischen Perspektiven orientiert und nicht Gruppen, sondern Phänomene ins Zentrum stellt.
Ruth Manstetten brachte anschließend Erfahrungen aus ihrer qualitativen Forschung mit erwerbslosen Menschen ein. Sie zeigte, wie tief gesellschaftlich abwertende Vorstellungen in Interviews und späteren Repräsentationen wirksam werden. Eine stille Schreibübung bot die Teilnehmenden Raum, über ihre eigenen Forschungsprojekt nachzudenken: Welche Zuschreibungen kursieren über das Thema? Was könnte stigmatisierend sein? Wie geht man mit der Vulnerabilität der Forschungspartner*innen um? Zur Sprache kamen dabei auch forschungsethische Prinzipien wie informierte Einwilligung, Transparenz, Anonymisierung, Freiwilligkeit, die Rückgabe von Ergebnissen an das Feld sowie partizipative Forschungsansätze.
Der dritte Block widmete sich den Risiken für Forschende selbst im Feld. Vor allem im Hinblick auf sexualisierte Gewalt, Rassismus oder andere Formen der Grenzverletzung. Es wurde offen über Erfahrungen gesprochen, die in klassischen Methodenausbildungen meist ausgeblendet bleiben. Thematisiert wurde der Widerspruch zwischen der Erwartung, sich „neutral“ zu verhalten, und dem Bedürfnis, sich zu schützen. Die Tabuisierung solcher Erfahrungen in akademischen Kontexten wurde kritisch reflektiert. In einer kollektiven Risikoanalyse wurden Erfahrungen und Strategien gesammelt: zu zweit ins Feld gehen, Gefahren vorab durchdenken, Selbstverteidigungskurse, kollegiale Beratung, Fiktionalisierung, Rückhalt in Ethikkommissionen oder Forschungsgruppen.
Im vierten und letzten Block stand ein „Methoden-Check“ im Mittelpunkt: Wie machen unsere theoretischen Vorannahmen und methodischen Zugänge soziale Ungleichheiten sichtbar? Anhand Beispiele wurde das Spannungsverhältnis zwischen manifesten und latenten Ungleichheiten diskutiert sowie das Problem des Othering in der Repräsentation. Kritisch beleuchtet wurden Theorien, Methodologien und Methoden unter dem Gesichtspunkt ihrer Reflexivität. Zur Sprache kamen feministische Methodologien (z.B. situiertes Wissen), ethnografische Forschung im Anschluss an die „Writing Culture“-Debatte (Krise der Repräsentation), dekoloniale und postkoloniale Studien (z.B. Geopolitik des Wissens), indigene Wissenschaftsansätze (z.B. Reziprozität) und sozialwissenschaftliche Diskussionen um „strong reflexivity“.
Der Workshop schloss mit einer gemeinsamen Abschlussdiskussion, in der deutlich wurde, wie zentral die Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheiten in qualitativer Forschung ist. Die intensive Beschäftigung mit methodologischen, ethischen und politischen Fragen der Forschungspraxis wurde von den Teilnehmenden als äußerst notwendig und produktiv empfunden. Es war ein intensiver, manchmal anstrengender, aber durchweg bereichernder Tag. Einhellig wurde der Wunsch geäußert, das Format zu wiederholen und zu erweitern, um weiterhin Räume für kollektive Reflexion, Kritik und Methodenschärfung zu ermöglichen.